Madge Gill – Ohne Titel, um 1943

Madge Gill – Myrninerest

Januar – Februar 2010

»Myrninerest« so nannte Madge Gill den Geist, der ihr während des Zeichnens meist im Stehen und nachts erschien. Nach der Ausstellung 2007 ist dies die zweite Präsentation ihrer Tuschzeichnungen. 

Noch in der viktorianischen Zeit als uneheliches Kind in einem Londoner Vorort geboren, durchleidet Gill im Laufe ihres Lebens nahezu alles, was es an Schicksalsschlägen geben kann. Sie wird von Mutter und Tante aufgezogen, die ihre Existenz jahrelang geheim halten, dann doch in ein Waisenhaus abgeschoben und von dort als eine Art Haushaltshilfe nach Kanada verschifft. Mit 19 Jahren gelingt es Gill ins Londoner East End zurückzukehren, wo sie als Krankenschwester arbeitet. 

Um 1919 beginnt sie zu zeichnen. Sie ist mittlerweile auf einem Auge erblindet und hat zwei ihrer drei Kinder verloren. Es entstehen Schriften und Stickereien, wobei Letzteres ja zu den klassischen Aufgaben der »guten« viktorianischen Zeit gehört. In der Fläche des Blattes erfüllt sich diese Dichte einer Fädelung durch ihre Stilistik der Zeichnung. Sie sind engstens gefügt und bestechen durch ihre unmittelbare Präsenz. Madge Gill ist zu keinem Zeitpunkt daran interessiert „Kunst“ zu schaffen. Von dem Phantom Myrninerest getrieben, bilden die Arbeiten eine Art Schutzwall gegen eine äußere Welt. 1932 sind erstmals Bilder von ihr in einer von der Whitechapel Gallery organisierten Ausstellung zu sehen. Die Bekanntheit ihres Werkes wächst stetig, wobei eine breite Anerkennung erst nach ihrem Tod durch eine Ausstellung in der Grosvenor Gallery 1968 einsetzt. Heute gehören ihre Arbeiten zum festen Kanon der »British Outsider Art«. Zentrale Werkgruppen besitzen beispielsweise die Collection de l’Art brut in Lausanne und die Aracine Collection in Lille. Gerne unternehme ich es mit dieser Ausstellung, das Außenseitertum der Künstlerin und die große bildnerische Kraft ihrer Zeichnungen ins Zentrum zu rücken.

Madge Gill
Ohne Titel
um 1943
Tusche auf Karton
14 x 8,7 cm